Andreas Janke – Stationen
SalzgitterseeBin ich zuerst geschwommen oder gelaufen? Wahrscheinlich konnte ich zuerst laufen, aber ich war in diesem See mit Sicherheit, bevor ich krabbeln konnte. In diesem Wasser und im nahegelegenen Hallen-Freibad bin ich groß geworden. Beim Training im Becken habe ich mich immer eingesperrt gefühlt. Das offene Wasser ist mein Element.
| Außen – vor dem Freibad – nachmittags, Frühjahr, stark bewölktAuf der Tafel werden 14 °C Wassertemperatur angezeigt. Das Bad ist geschlossen. ANDREAS (In Gedanken) Noch zu. Der Hintereingang wird offen sein. Kostet eh keinen Eintritt. 14 °C wird weh tun, 16 °C wäre besser. Außen – im Freibad – nachmittags, Frühjahr, dunkle WolkenZwischen den Türen der Umkleidekabinen und dem Boden sind einige handbreit Platz. ANDREAS gleitet unter der abgeschlossenen Tür ins Freie: 9 Jahre, ein hautüberzogenes Skelett in Badehose, 10–15 kg Untergewicht, Gänsehaut. 800m: Die Kälte schneidet brutal bis auf die Knochen, die Arm- und Handmuskeln brennen. ANDREAS (In Gedanken) Ich brauche nie so lange für 800m. Schwimm anders! Kaum Luft, atme anders! Wenn das in 200m immer noch weh tut und ich so langsam bleibe, fahre ich nach Hause. ANDREAS korrigiert seine Lage im Wasser, verändert seinen Schwimmstil und passt den Atemrhythmus an. ANDREAS (In Gedanken) 1000m. Schmerzgrenze ade. Ich schwimme immer noch zu langsam. 3000m: Die Ereignisse in der Schule sind durchdacht und sortiert. Kopfschmerzen und Übelkeit sind verschwunden. Der Gedankensturm hat sich gelegt. Dafür stürmt jetzt das Wetter. ANDREAS verlangsamt seinen Rhythmus, nimmt Energie aus den Schwimmbewegungen und passt seine Atmung an, um für die Langstrecke Kraft zu sparen. 5000m: ANDREAS schwimmt kontemplativ-rhythmisch. Es existieren nur noch das Wasser und er. Es regnet heftig. 6000m: Der Regen ist in Hagel übergegangen. ANDREAS (In Gedanken) Schöner Klang. Ob das bisschen Hagel reicht, um die Wassertemperatur unter 14 °C abzukühlen? Hoffentlich nicht. 8000m: Der Hagel hat aufgehört, das Wasser dampft. ANDREAS (In Gedanken) 8km. Ein Schwimmbecken ist kein See, ich kann jederzeit raus. Besser nicht übertreiben: Vielleicht noch 2km. 9000m: Die Kälte ist zurück, aber anders. Sie beißt nicht, sie ist einfach nur unfassbar kalt und lähmend. ANDREAS (In Gedanken) Ich penn hier im Wasser fast ein. Schwimm schneller und atme! Wille gegen Körper. Die letzten 1000m sickern zäh dahin. Nach jeder Runde fragt sich ANDREAS, ob noch eine weitere Runde geht. 10000m: Erste Anzeichen der Abenddämmerung. Der Wind frischt wieder auf. ANDREAS will sich wie üblich am Beckenrand aus dem Wasser stemmen, kommt aber nicht hinaus. ANDREAS (In Gedanken, gelassen fokussiert) O.k., das ist gefährlich. Ich muss aus dem Wasser. Wenn nicht so, dann über die Treppe. An der Treppe. ANDREAS sitzt auf den Stufen, Kopf und Schultern schauen aus dem Wasser, die Knie sind als Kälteschutz eng an den Körper gezogen. ANDREAS (In Gedanken, klar) Ist das kalt da draußen bei dem Wind. Im Wasser ist es viel wärmer. Vielleicht hätte ich doch zum See fahren sollen. Dort geht immer irgendwer spazieren, den man um Hilfe bitten kann. Hier ist niemand. Ich kann mich kaum noch bewegen. So beschreiben Bücher erfrieren. Mir bleibt nur noch wenig Zeit, bis ich gar nicht mehr aus dem Wasser komme und ertrinke. (Entschlossen) Hallo Tod, mal wieder, ja? Du bist spannend, aber das Leben ist spannender. Du kriegst mich auch heute nicht, verstanden. Also los! Und wenn ich jeden Muskel einzeln zwingen muss, sich zu bewegen, ich komme rüber in die Kabine! Der Wille gewinnt langsam die Schlacht gegen den Körper: In Zeitlupe, hölzern, schleppend steht ANDREAS auf, kämpft sich auf der Treppe aus dem Wasser und über die Wiese. Ungelenk bleibt er fast im Spalt unter der Kabinentür stecken. Innen – Umkleidekabine im Freibad – früher Abend, Frühjahr, graues Licht von außenDer Wind rüttelt an der Tür. Endlich umgezogen und ins zweite, trockene Badehandtuch eingewickelt, hält ANDREAS eine Tafel Schokolade in der Hand. Beschwörend murmelt er vor sich hin, bis die Hände gehorchen und die Tafel auspacken. In einem Zug isst er die Schokolade auf. Erst ist es warm im windberuhigten Raum. Erschöpft, zutiefst entspannt und glücklich, ruht sich ANDREAS aus. Es kündigt sich wie ein leichtes, flimmerndes Rauschen an, dann fährt ein schmerzhaftes Zittern durch den gesamten Körper. ANDREAS (In Gedanken, hellwach fokussiert) Hier ist es auf Dauer zu kalt. Solange ich so zittere, kann ich nicht nach Hause fahren. Das hört sofort auf! Das Zittern ebbt ab. ANDREAS schlüpft aus der Kabine. Außen – Freibad vor der Bademeisterkabine – früher Abend, Frühjahr, dunkle WolkenANDREAS' Trainingsanzug weht im Wind. Die Haare sind noch nass. Auf dem Weg zum Fahrrad wirft er einen Blick auf die Wetterstation: Die Lufttemperatur ist unter 10 °C gefallen. Lycée in Bruz(Frankreich) Ich habe damals keine Fotos gemacht, und auf den Bildern, die heute im Netz stehen, erkenne ich meine Schule nicht wieder. Wir hatten einen Raum, der ständig mit einem Lehrer besetzt war, um darin in unseren Freistunden Aufgaben zu erledigen. Bei schönem Wetter war das eine Qual. Aber da die Schule von hohen, mit NATO-Stacheldraht gekrönten Zäunen umgeben war, die i.d.R. nur zu Schulanfang und -ende geöffnet wurden, konnten wir eh nichts anderes machen. Dafür hatten wir nach der Schule normalerweise frei und sehr viel Spaß.
Heinolan Lukio(Finnland) Finnische Schulen haben heute in Deutschland einen Heiligenschein. Ich bin da skeptisch. Zumindest bei uns war der Unterricht in den höheren Klassen brutal auf friss und spuck's aus getrimmt. Trotzdem hatte die Schule klare Vorzüge gegenüber (meinen) deutschen Schulen: Es gab eine Infrastruktur für die Gemeinschaft: Ruhe- und Entspannungszonen, eine Mensa, … Gemeinsam mit ein, zwei Klassen erst in die Sauna, dann in den See schwimmen und anschließend grillen gehen schafft echte Gemeinschaft.
Universität Hamburg: Theologicum(Hauptstudium) Hamburg ist das Tor zur Welt, und das atmet die Stadt durch jede ihrer Poren – auch in der Theologie. Worüber woanders die Bekenntnisfrage in Seminaren ausgefochten wird, hört man sich in Hamburg mit Interesse an der Vielfalt der Welt wertschätzend zu und ergründet, was die Stärken der anderen Meinung sind. Dieser Fachbereich ist kein Elfenbeinturm, sondern steht mitten im Leben. In Hamburg habe ich das erste Mal begriffen, was „Heimat“ bedeutet. Ausflüge in die Informatik, Germanistik, Sinologie, Pädagogik, Jura.
Georg-August-Universität Göttingen: Theologicum(Examensvorbereitung) KUL-TUR-SCHOCK! Ich habe mich am Anfang des Studiums bewusst gegen Göttingen entschieden und am Ende bestätigt bekommen, dass es gut so war. Göttingen ist so etwas wie eine Stadt. Aber nach Osaka und Hamburg… schwer verdaulich… auch intellektuell. Ich habe in manchen Lehrveranstaltungen einfach nur die Krise bekommen und mich anschließend bei meinen Hamburger Vätern ausgeheult (die belustigt staunten, dass solche Dinge in Deutschland noch gelehrt werden). Mit ein paar alten Bekannten, neuen spannenden Leuten, einem Baggersee, sehr viel Arbeit und der Institutsbibliothek der Mediziner – die theologische war am Ende ihres Lateins – habe ich die Zeit überstanden. Vielleicht hat mich auch das davon abgehalten, mein letztes Promotionsangebot anzunehmen. Dabei habe ich schon in die Arbeitstreffen der Doktoranden hineingeschnuppert. Ausflüge in die Sozialwissenschaften und Medizin. |